Itzig zu Schlesinger, seinem Prokuristen: »Ich gehe jetzt in die
Synagoge und will dort unter keinen Umständen gestört werden!«
Kaum ist Itzig draußen, kommt ein Anruf aus der Börse:
Skoda-Aktien sind auf vierhundertzehn gestiegen.
Schlesinger wird unruhig. Eine Viertelstunde später:
Skoda Aktien stehen auf vierhundertdreißig!
Schlesinger hält es kaum noch aus. Beim dritten Anruf: Skoda-Aktien
vierhundertfünfzig, stürzt er zur Synagoge, Itzig zu verständigen.
Darauf Itzig in tadelndem Ton: »Schlesinger, Sie haben drei schwere
Fehler gemacht. Erstens haben Sie mich gestört in meiner Andacht.
Zweitens haben Sie meine Glaubensbrüder gestört in ihrer Andacht.
Und drittens notieren Skoda-Aktien hier bereits
vierhundertfünfundachtzig!«
Der anspruchsvolle jüdische Witz hat eine Melancholie eigner Prägung, etwas wie Trauer darüber, dass Anspruch und Realität sich offenbar nie decken und man, um wenigstens »im Wort bestehen zu können«, darauf angewiesen ist, Spiegelgefechte mit der Wahrheit zu führen. Durch lange Zeit hindurch war der Witz der Juden die einzige und unentbehrliche Waffe des jüdischen Volkes. Es gab, zumal in der Neuzeit, Situationen, die die Juden ohne Hilfe des Volkes kaum hätten bewältigen können.
In so manchen jüdischen Witzen steckt mehr als man gemeinhin als Volksweisheit zu bezeichnen pflegt, Witze, die in Dimensionen führen, vor denen die Witze andere Völker Halt machen. Denn die Entstehung von Witzen ist nur auf einer Kulturhöhe möglich, die Verdrängung möglich macht. Je schärfer der Druck und je strenger die Anforderungen, je geringer dabei die Möglichkeit, sich durch befreiende Taten zu wehren, desto mehr und desto tiefere Witze werden entstehen – vorausgesetzt, dass der Druck und die Anforderungen bewusst erlebt und kritisch abgelehnt werden.
Der auf den Juden lastende Druck war bedingt durch den Willen, sich als Volk ohne gemeinsames Land und als wehrlose Volksgruppen im Exil über Jahrtausende zu erhalten. Die Anforderungen waren hierbei das übermächtige Gesetz und die unzähligen Vorschriften, die das gesamte Leben des gläubigen Juden durchdrangen. Die Realität jedoch ist die Schwachheit und Torheit des Menschen. Diesen Widerspruch zu überwinden half nur die Ironie.
Die bittere Selbstkritik, die zum Wertvollsten am jüdischen Schrifttum gehört, kennzeichnet auch den jüdischen Witz, z.B. im Kampf gegen eingebildeten Antisemitismus:
»Chaim, was hast Du im Radiogebäude drin gemacht?«
»Mi-mi-mich u-um die Sch-stelle des A-a-ansagers beworben.«
»Und? Hast Du sie bekommen?«
»N-ein! Da-da-s sind alles A-a-antisemiten!«
Der jüdische Witz entstand durch das ost- und mitteleuropäische Judentum kurz nach Einbruch der Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als bei den Juden zum ersten Mal eine tiefer gehende Kritik an den eigenen religiösen Institutionen und Verpflichtungen sowie den äußeren Lebensumständen im Exil aufkeimte. Er starb mit Abnehmen des äußeren Drucks sowie der Beendigung der Exilsituation durch Gründung des Staates Israel und ist heute nur noch eine historische Erscheinung. Wir sollten den jüdischen Witz, solange er uns in seinen Voraussetzungen noch nicht fremd geworden ist, versuchen zu verstehen. Es lohnt sich!
Henning Studte
»Lobster«, November 1999
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