Henning Studte - Cartoons

66 Lieblingsplätze

Mein unten stehender Beitrag wurde im folgenden Buch veröffentlicht:
»Darmstadt, wo es am schönsten ist: 66 Lieblingsplätze«
(B&S SIEBENHAAR Verlag, Berlin, ISBN 978-3-936962-52-9)


Kurzbeschreibung es Buches:
Darmstadt nutzt alle Vorteile: Die Stadt hat eine außergewöhnlich günstige Lage mitten in Europa. Sie ist eine echte Wohlfühlstadt - eine attraktive Mischung aus Weltläufigkeit, Kunst, Kultur, Forschung und Nähe zu Rhein, Main, Neckar und Odenwald. Das Buch lädt dazu ein, eine lebens- und liebenswerte Stadt aus ganz verschiedenen Blickwinkeln kennenzulernen. 66 prominente Ortskundige erzählen anschaulich und persönlich von ihren Lieblingsplätzen.


Die Stadtbibliothek Darmstadt
Leser-Skizzen oder Auf der Suche nach dem magischen Moment


Es ist zehn Uhr am Samstagmorgen. Der Verkehr rauscht mehrspurig an mir vorüber. Ich bin auf dem Weg ins Justus-Liebig-Haus, das die zentrale Darmstädter Stadtbibliothek beherbergt. Die Fassade an der Eingangsseite ist gläsern und gibt den Blick auf sitzende Zeitungsleser frei – bebrillte internationale Presseschau. Ich komme immer durch den Haupteingang, direkt zur Garderobe. Hier gilt es, allen überflüssigen Ballast abzuwerfen: Jacke, Tasche und Rucksack.


Als Karikatur- und Pressezeichner faszinieren mich bedruckte Seiten. Doch Blätter bleiben nur solange bloßes Papier, bis die Leser sie zum Leben erwecken. Wie entsteht diese Symbiose zwischen Papier und Leser, die sich hier allwöchentlich von Dienstag bis Samstag ereignet? Die Chemie muss stimmen – so hätte es vielleicht Justus Liebig gesagt. Wenige Schritte weiter ist die Aus- und Rückgabestelle der Medien. Hier geht einiges über den Tisch. Darmstadt ist im nationalen Leistungswettbewerb der Bibliotheken, dem Bibliotheksindex, konstant unter den besten Zehn zu finden. Nur die Reutlinger entleihen mehr. Für das Ein- und Aus-Checken werden Barcode-Lesegeräte verwendet. Über der Ausleihe hängen Schilder mit der Aufschrift »Verbuchungen« und »Selbstverbuchungen«. Wo wären Lesegeräte und Schilder dieser Art passender als in einer großen Büchersammlung!?


Nach ihrer maschinellen Identifizierung gelangen die medialen Heimkehrer in ein Zwischenlagerbuchregal. Ortskundige Angestellte befördern sie an ihre angestammten Standorte, es sei denn, sie sind so begehrt, dass sie gleich wieder ausrücken müssen. Die Stadtbibliothek leiht mittlerweile mehr CDs und DVDs als Bücher aus. Doch die Bücher verteidigen immer noch tapfer ihr Terrain und beanspruchen mehr Standfläche. Zu ihnen zieht es mich hin, um zwischen den Brettern vielleicht den magischen Symbiosemoment zu erhaschen und das, was ich sehe, skizzenhaft zu erfassen.


Eine modisch-elegante Frau nimmt diesen und jenen Krimi in die Hand und schätzt mit prüfendem Blick ab, ob er der richtige ist.


Nach vergleichender Lektüre von russischen Klassikern stellt ein stark professoral ausschauender Schnauzbartmann einzelne Bände behutsam ins Regal zurück, als wollte er sagen: »Es ist kein Abschied für immer, ich komme wieder!«


Auf einem Stuhl sitzt ein Junge von vielleicht acht Jahren. Auf seinen Knien liegt ein Buch, er ist nur noch physisch an diesem Ort anwesend. Versunken und gleichzeitig erhoben erinnert er mich in seiner Intensität an Ernst Barlachs Skulptur »Lesender Klosterschüler«.


Ihrer doppel- oder dreifach belegten Bude entflohen sind zwei chinesische Studenten, um sich hier in Ruhe auf ihre Prüfungen vorzubereiten. Hier ist keine Störung oder Ablenkung zu befürchten.


Vor gestapeltem Wissen hat sich ein bauchiger Mann ganz klein gemacht, damit »sein« Buch endlich aus dem Wartestand erlöst wird.


Ein freundlich drein schauender, kahlköpfiger Besucher der Kinderbuchabteilung liest seiner Enkelin aus einem Bilderbuch vor. Die aufmerksame Zuhörerin rückt immer näher an ihren Opa heran. Sie kann noch nicht selbst lesen, aber ich kann den Verlauf der Tierfabel von ihrem Gesicht ablesen.


Ein grau melierter, vornehmer Herr kann sich nicht für eines der zahlreichen Beratungsexemplare über die richtige Geldanlage entscheiden und trägt die schwere Kost zur näheren Begutachtung an einen der Einzelarbeitsplätze.


Eine der jederzeit freundlichen Bediensteten lotst einen Orientierungslosen zu den ersehnten Burgen und Schlössern.


Der Reiz dieser Beobachtungen besteht für mich in den unterschiedlichsten Lesertypen, die mich zu Cartoon-Motiven rund um das Thema Buch anregen. Der eine oder andere Typ wird sich und seine Mitmenschen hoffentlich wiedererkennen, wenn ich meine Zeichnungen in Stadtbibliotheken ausstelle. Ein einzelner Bücherleser in einer Straßenbahn inmitten von Zeitungslesern, die ihn argwöhnisch bemustern – das wäre so ein Beispiel.


Die Medien- und Menschenvielfalt in Reinkultur gibt es nur hier und jetzt, vor Ort: Fundgrube und Schatzinsel in einem. Auch das Herunterladen von digitalen Medien wird immer nur eine sinnvolle Ergänzung zum realen Erlebnis Stadtbibliothek sein.


Aber Achtung! Diejenigen, die sich dort festlesen, sollten vorsorgen: Denn hier wird nur der Wissensdurst gelöscht. Während große Buchhandlungen ihren Kaufaspiranten bereits einen Kaffee zum Lesevergnügen servieren, bleibt in der Darmstädter zentralen Stadtbibliothek bei trockener Kehle nur der Gang zum Wasserhahn. Wer hier länger lesen möchte, sollte übrigens sein eigenes Polster mitbringen. Nur wenige bequeme Sessel finde ich in den weiten Hallen.


Aber vielleicht passen Stühle einfach besser in diese wichtigste Einrichtung zur Demokratisierung des Lesens. So kann ich mich auf das Wesentliche – die Bücher – konzentrieren, aber auch genau hinschauen, was sich zwischen den Bücherbrettern tut.


Henning Studte